Mit nur wenigen anderen Begriffen ist seit Jahrhunderten so oft und so gern Politik gemacht worden, wie mit dem des „christlichen Abendlandes“. Dabei gab (und gibt es noch) vielfältige Variationen des Themas: Da ist die Rede von der „christlich-abendländischen Kultur“, die es zu verteidigen gelte, vom „christlichen Erbe unseres Kontinents“ und schliesslich von der „christlichen Zivilisation“, deren weltweite Ausbreitung auch Indern, Indianern, Papuas und Buschmännern, Chinesen und Eskimos Glück und Segen bringen solle. Die Folgen dieser christlich-abendländischen Propaganda sind allgemein bekannt: Blutige Kriege wurden von ihr angeheizt, in denen christliche Priester beider Konfessionen die Waffen für den Kampf gegen sogenannte „Ungläubige“ segneten.
Ganze Völker überall in der Welt wurden unterworfen und zwangsweise zum Kreuz bekehrt, ihre jahrtausendealten eigenen Kulturen und Religionen brutal unterdrückt. Und in Europa selbst loderten jahrhundertelang die Scheiterhaufen der Hexen-, Ketzer- und Bücherverbrennungen, und wurden zahllose Menschen um Haus, Hof und Heimat gebracht, um der seltsamen Konstruktion einer christlich-abendländischen Kultur zur Durchsetzung zu verhelfen.
Europa, das „Abendland“, wurde als „christlich“ definiert und getreu dem Satz, das nicht sein kann, was nicht sein darf, musste alles beseitigt werden, was der Gleichsetzung von Abendland und Christentum widersprach.
Und es widersprach so vieles!
Heute, in einer Zeit, in der die Macht der Institution Kirche angeschlagen, und unser Wissen um die geschichtliche Wirklichkeit gewachsen ist, stellt sich das „christliche Abendland“ zunehmend mehr als eine Fiktion, ein propagandistisches Konstrukt, eine Legende mit schlimmen Folgen dar, nach deren Entstehung und Konsequenzen wir uns zu fragen haben. Die Wurzeln der christlichen Religion liegen in Vorderasien, die Bibel, als zentrale Quelle der christlichen Lehre, ist in weiten Teilen die Überlieferungssammlung einer alten vorderasiatischen Volksreligion, des Judentums. Entstanden als jüdische Sekte unter den besonderen Bedingungen der römischen Herrschaft in Palästina, ist das Christentum in seinem Kern und in seiner ursprünglichen Form durch diese ethnischen, räumlichen und zeitlichen Entstehungsbedingungen geprägt. Religion und Kultur sind stets abhängig von den spezifischen Denkstrukturen und Mentalitäten des Volkes, dem sie entspringen, wobei diese wiederum von Vererbung, Überlieferung, konkreter geschichtlicher Erfahrung und geographisch-klimatischen Bedingungen geprägt werden. Mit der Geringschätzung der Natur, der Abwertung der Frau und dem Glauben an jenseitige Erlösung entsprach die christliche Lehre in wesentlichen Punkten den traditionellen Volksreligionen des vorderasiatischen Raumes und der dort bis heute vorherrschenden Mentalität. Ihre im Gegensatz zu anderen Glaubensrichtungen innerhalb des Judentums betont sozialutopische und egalitäre Tendenz, die in der Lehre von der völligen Gleichheit aller Menschen vor dem Richterstuhl des über und jenseits der Welt stehenden Gottes gipfelte, liess die christliche Religion vor allem bei den Unterschichten des römischen Imperiums, bei den auf Erlösung harrenden Sklaven, neue Anhänger gewinnen.
Selbstverständlich stand das Christentum mit seiner von den vorderasiatischen Ursprüngen geprägten Lehre im scharfen Widerspruch zu den Volks- und Stammesreligionen der Römer, Griechen, Kelten, Slaven, Balten und Germanen, d.h. der Völker indoeuropäischer Wurzel, die sich – bei aller Unterschiedlichkeit im einzelnen – gerade durch ein tiefes Gefühl der Eingebundenheit in die Natur, die hohe Achtung der Frau in ihrer natürlichen Rolle, den Gedanken der Selbsterlösung durch die Tat und den Glauben an eine der Natur und der Welt innewohnende, also nicht ausserhalb von ihr stehende, Göttlichkeit auszeichnete. Von diesen Ausgangsbedingungen waren die christliche Religion und die europäischen Volksreligionen von Anfang an einander diametral entgegengesetzt, und das Denken der europäischen Menschen war dem Christentum völlig fern. [newpage] Erst im vierten Jahrhundert, unter dem römischen Kaiser Konstantin dem „Grossen“, gelang es der christlichen Lehre, zur beherrschenden Religion im Imperium Romanum zu werden. Mit ausschlaggebend hierfür war die Tatsache, dass die alte römische Volksreligion in dem hunderte von Völkern und Stämmen umfassenden Reich, keine Integrationskraft mehr besass, und ihre Träger, die eigentlichen Römer, selbst unter führenden Schichten des Reiches nur noch eine Minderheit darstellten. Mit seinem universalen, ethnische Besonderheiten nicht nur ignorierenden, sondern bewusst nivellierenden Anspruch, bot sich das Christentum als neue, integrationsfähige Staatsreligion an. In der Folgezeit begann dann die Missionierung Mittel-, Nord- und Osteuropas, die eine genauere Betrachtung verdient. Die Christianisierung lief fast überall nach gleichem Schema ab: Ein Fürst oder König trat zum christlichen Glauben über, wobei in zahlreichen Fällen hierfür politische und machtstrategische Überlegungen und keinesfalls eine „innere Bekehrung“ ausschlaggebend waren. Vor allem bei den Germanen war es dann das alte Prinzip der „Gefolgschaftstreue“, durch das auch seine Männer und ihre Familien in den Schoss der Kirche geführt wurden.
Als erster germanischer Stamm nahmen 416 n.Ztw. die linksrheinischen Burgunder das Christentum an, 430 folgten die rechtsrheinischen Burgunder, 488 die Sweben und 498 die Franken unter König Chlodwig I. Im 6. Jahrhundert wurden dann die Goten christlich. Die formale Taufe bedeutete dabei zunächst noch wenig, und viele der alten heidnischen Sitten und Bräuche lebten fast unverändert weiter fort. Als Bonifatius 723 die Donareiche fällte, geschah das in Hessen, einem Land, das bereits vorher formal dem Christentum zugefallen war, ohne dass dies an der Lebensweise seiner germanischen Bewohner zunächst viel geändert hätte – Kreuz und Irminsul standen eine ganze Zeitlang nebeneinander. Am Ende des 8./Anfang des 9. Jahrhunderts erfolgte die Christianisierung der Sachsen zwischen Ems und Elbe, Eider und Harz, wobei die Hinrichtung von über 4000 sächsischen Kriegern und Edlen in Verden an der Aller im Jahre 782 ein deutlicher Hinweis darauf ist, mit welcher Härte die Widerstände dieses germanischen Stammes gegen seine Unterwerfung und Bekehrung gebrochen werden mussten. Erst im 11. Jahrhundert setzte dann die Christianisierung der Nordgermanen und der britannischen Angelsachsen ein. In Norwegen war es Olaf der Heilige, der von 1016 bis 1028 regierte, der den neuen Glauben mit Gewalt und gegen scharfe Widerstände einführte. In Schweden zogen sich die Kämpfe zwischen den christlichen Gauten und den weiterhin heidnischen Svear Uplands sogar noch bis 1125, also bis ins 12. Jahrhundert, hin. Spät erfolgte auch die Christianisierung Osteuropas.
Erst 966 trat der polnische Herrscher Mieszko I. zum Christentum über, wofür auch nicht die innere Überzeugung, sondern die machtpolitisch motivierte Heirat mit der böhmischen Prinzessin Dubrawka ausschlaggebend war. Aus dem 11. Jahrhundert wird aus Schlesien und Böhmen selbst von heidnischen Aufständen berichtet – wohlgemerkt: in einem Kernland Europas und mitten im vielzitierten „christlichen Mittelalter“. Ungarn wurde erst Anfang des 11. Jahrhunderts christlich, und im russischen Grossfürstentum Kiew entschloss man sich zwar 987 zur Annahme der christlichen Religion durch das Herrscherhaus, doch mussten die Untertanen noch massenhaft und recht unsanft zur Zwangstaufe in den Don getrieben werden. Auch hier waren wieder machtpolitische Gegebenheiten bestimmend gewesen, die sich die Kirche geschickt zunutze gemacht hatte: Die Heirat des Kiewer Grossfürsten WIadimir I. mit der byzantinischen Prinzessin Anna. Nach wie vor dem Christentum verschlossen blieb dagegen Litauen, und noch bis ins 15. Jahrhundert hinein zog sich der Abwehrkampf der Litauer zur Verteidigung ihrer Volksreligion hin – d.h., bis in die Zeit kurz vor Kolumbus‘ Amerikafahrt hielt ein ganzes europäisches Volk am heidnischen Glauben fest und wurde von der Christianisierung noch nicht erfasst. Aus dieser kurzen historischen Übersicht wird bereits deutlich: Die Christianisierung Nord-, Mittel- und Osteuropas war ein Prozess, der rund 1000 Jahre in Anspruch nahm, ehe alle Gebiete des Kontinents auch nur formal, d.h. durch Übertritt des jeweiligen Herrschers zur Kirche und die Proklamation des Christentums als Staatsreligion, für den neuen, fremden Glauben gewonnen war. Bis ins späte Mittelalter und bis ca. 80 Jahre vor der Reformation hielten sich in Europa Territorien mit heidnischer Bevölkerung, Territorien, in denen das Christentum nur gegen starke Widerstände Fuss fassen konnte. Der Abschluss der ersten, formalen Christianisierung liegt also noch keine 600 Jahre zurück, davor aber liegt eine vieltausendjährige Epoche europäischer Kultur, die von allem anderen als der christlichen Lehre bestimmt war. Allein von dieser zeitlichen Dimension her ist die Gleichsetzung von europäischer Kultur und Christentum ein Unfug, der sich sehr schnell als reine Zweckpropaganda entlarvt.
Die formale Christianisierung eines Gebietes war überdies noch keinesfalls gleichbedeutend mit der tatsächlichen Annahme des christlichen Glaubens durch die jeweiligen Bewohner. Gerade über dieses Missverhältnis zwischen „offizieller“ Annahme des Christentums und tatsächlichem, kulturellem und religiösem Verhalten liefert eine neue Unterdisziplin der Geschichtswissenschaft, die historische Volkskulturforschung, in den letzten Jahren eine Fülle hochinteressanter Details, die das Gespinst des „Christlichen Abendlandes“ mehr und mehr als Legende erscheinen lassen. Bemerkenswert ist, dass diese neue Fachrichtung, die auch volkskundliche, religionswissenschaftliche und soziologische Aspekte in ihre Untersuchungen mit einbezieht, vor allem in England und Frankreich einen starken Aufschwung hat, in Deutschland aber teilweise noch starken Widerständen ausgesetzt ist. Hierzulande scheint es auch mehr als 40 Jahre nach Kriegsende nur unter Schwierigkeiten möglich zu sein, in historischen und volkskundlichen Fachkreisen auf heidnisch-naturreligiöse Kontinuitäten in der Volkskultur hinzuweisen. Allzu schnell kommt dann der Verweis auf ähnliche Bemühungen in der Zeit vor 1945, was einem wissenschaftlichen Verdammungsurteil gleicht. So lässt sich nach wie vor mit dem schlichten Satz „das haben die Nazis auch gemacht“ jeder ernsthaften wissenschaftlichen Diskussion aus dem Wege gehen.
Der britische Wissenschaftler Peter Burke gibt in seinem Buch „Helden, Schurken, Narren, europäische Volkskultur der frühen Neuzeit“ eine gute Übersicht darüber, wie wenig bzw. wie oberflächlich die Christianisierung auch noch nach dem Ende des Mittelalters in Europa Fuss gefasst hatte. So schreibt er: „Weder in Irland noch in Wales, Schottland oder der Bretagne war zu jener Zeit die keltische Mythologie oder der keltische Baumkult ausgestorben. In Teilen Skandinaviens war die nordische Mythologie erhalten geblieben. In den skandinavischen Alpen und in Lappland wurde noch im achtzehnten Jahrhundert der nordische Gott Thor verehrt, und der Donnerstag als Feiertag betrachtet. Nordische Mythen blieben in Skandinavien als Volksballaden erhalten. Am lebendigsten erhielten sich vorchristliche Kultformen in Litauen und in Russland. 1547 sollen die Litauer immer noch ihre alten Götter Perkuna, Laukosargas und Zemepatis verehrt haben. 1549 berichtete der kaiserliche Gesandte Herberstein, dass in der Gegend von Perm in Russland in den Wäldern immer noch Götzendiener zu finden seien, und dass der alte Donnergott Perun noch angebetet werde“. (S. 63 f.) Und noch zu der Zeit, als christliche Missionare bereits Mittel- und Südamerika, Indien und die afrikanische Westküste überfluteten, sahen sie sich in ihrem europäischen Hinterland mit Problemen konfrontiert, die denen in den neuen Kolonien durchaus entsprachen.
Burke schreibt dazu: „So predigten Jesuiten am Ende des 16. Jahrhunderts in Huelva, westlich von Sevilla und stellten fest, dass die Einwohner eher Indianern glichen, als Spaniern“. 1628 erklärte Sir Benjamin Rudyard im Unterhaus, es gebe Teile von Nordengland und Wales, „die schwach im Christentum seien, wo Gott kaum mehr bekannt sei, als unter den Indianern“. (S. 222) Ein französischer Kollege Burkes, Robert Muchembled, kommt zu ähnlichen Ergebnissen. In einer grossangelegten Studie, die 1982 auch auf Deutsch unter dem Titel „Kultur des Volks – Kultur der Eliten“ erschien, befasste er sich mit der Volkskultur Nordfrankreichs zwischen dem 5. und dem 18. Jahrhundert und ihren Veränderungen. Er konstatierte dabei vor allem bei der Landbevölkerung eine Weltsicht, die sich wesentlich von der heutigen, aber auch von der damaligen kirchlichen, unterschied. So wurde die Zeit nicht als linear, sondern als zyklisch, geprägt vom Rhythmus der natürlichen Abläufe, empfunden, ein Zeitbegriff, der im krassen Widerspruch zum linearen, eschatologischen Denken des Christentums stand.
Dem zyklischen Zeitempfinden entsprachen bestimmte Festzyklen, die sich zwar oberflächlich am Kirchenkalender orientierten, von denen Muchembled aber sagt, dass sie „nicht oder nicht rein christlichen Ursprungs“ gewesen seien (S. 53). Sie hätten vielmehr „noch deutlich ambivalenten, dass heisst sowohl christlichen als auch heidnischen Charakter“ gehabt (S. 53). Mit dieser Tatsache verweist Muchembled auf die ja auch in Deutschland ersichtliche Tatsache, dass die Kirche nicht umhin konnte, die Feste der alten Volksreligion, etwa die Wintersonnenwende, aufzugreifen und allmählich in ihrem Sinne umzudeuten, um überhaupt einen Zugang zu der christlichem Denken fremd gegenüberstehenden Bevölkerung zu finden. Weiterhin verweist Muchembled auf die am Ende des Mittelalters noch völlig andere Stellung der Frauen: Sie waren es, „die einen zählebigen heidnischen Glauben von Generation zu Generation weitergaben“ (S. 63) und als Hüterinnen religiösen und volksmedizinischen Wissens grösste Achtung im Volk genossen. Erst im 16. und 17. Jahrhundert kam es dann zu einer Art zweiten oder „inneren Christianisierung, zur Ausmerzung der noch stark vorhandenen heidnischen Glaubenselemente und zur radikalen Durchsetzung der kirchlichen Normen. Ketzerprozesse, Hexenverfolgungen und eine strenge Reglementierung des Alltagslebens wie auch der Festkultur sind kennzeichnend für diese zweite Christianisierungsphase. Aus all dem wird ersichtlich, dass auch nach der, sowieso erst recht spät vollständig erfolgten, formalen Christianisierung Europas weite Teile der Bevölkerung in den einzelnen Ländern der christlichen Lehre gleichgültig bis schroff ablehnend gegenüber standen, und vor allem die Kultur der Landbewohner – und dies war die Masse der Bevölkerung – noch überwiegend von älteren, heidnischen bzw. volksreligiösen Traditionen und Denkvorstellungen geprägt war. Auch in dieser Hinsicht greift also das Schema vom „christlichen Abendland“ nicht.
Eine genaue wissenschaftliche Betrachtung der kulturellen Erscheinungsformen offenbart bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein in weiten Teilen Europas die Existenz und meist gar die Dominanz eines nichtchristlichen Glaubens, der sich auf die Gedankenwelt der vorchristlichen Volksreligionen gründete, wenngleich diese auch in ihrer ursprünglichen Form zerbrochen waren.
Wie aber sah es mit den Gebildeten in den Städten, mit Gelehrten, Schriftstellern, Künstlern und Forschern aus, mit den Personen also, an die man oft denkt, wenn von „abendländischer Kultur“ gesprochen wird? Gewiss sind uns aus dem frühen Mittelalter im wesentlichen Zeugnisse christlicher, ja, klösterlicher Kultur überliefert, so dass der Eindruck entstehen könnte, es seien Priester und Mönche gewesen, die den heidnischen „Barbaren“ überhaupt erst die Kultur brachten. Doch dieses, von der Kirche und der etablierten Geschichtsforschung gezeichnete Bild ist trügerisch: Auch die heidnischen Völker Alteuropas hatten eine Kultur auf hoher Stufe entwickelt, was z.B. jedem deutlich wird, der einmal die Erzeugnisse keltischer Goldschmiedekunst aus der mehr als zwei Jahrtausende zurückliegenden La-Tene- Zeit oder Produkte nordeuropäischer Metall-Kunsthandwerker aus dem ersten nachchristlichen Jahrtausend gesehen hat. Auch war die vorchristliche Kultur Europas durchaus nicht schriftlos und nur durch die systematische Zerstörung der heidnischen Schriftdenkmäler im Zuge der Christianisierung wurde dieser Überlieferungsstrang abgeschnitten. Verwiesen sei schliesslich auch auf die hochstehenden Kulturen der heidnischen Antike im Mittelmeerraum, die nach der Einführung des Christentums im römischen Reich keinesfalls eine neue Blüte erlebten, sondern vielmehr untergingen.
Seit dem Mittelalter zieht sich dann von Meister Eckehart über Kopernikus, Galilei und Giordano Bruno bis hin zu Goethe eine lange Reihe von Denkern durch die europäische Geistesgeschichte, die teils als offene Ketzer gegen die Lehren der Kirche wirkten und damit die Unabhängigkeit des Denkens gegen die klerikalen Fesseln verteidigten. Somit kann gerade die europäische Geistesgeschichte keinesfalls als Beweis für die Gleichsetzung des Abendlandes mit dem Christentum herhalten. Sie war, trotz aller unbestreitbaren und keinesfalls immer glücklichen christlichen Einflüsse vielmehr seit dem Mittelalter ein Schauplatz des Kampfes um geistige Freiheit gegen kirchliche Bevormundung. [newpage] Fassen wir das Gesagte zusammen, so ergibt sich: Die christliche Lehre fasste in Europa nur ganz allmählich, gegen heftige Widerstände und über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren hinweg, Fuss. Weite Teile Europas blieben bis ins Mittelalter, bestimmte Länder sogar noch Iänger, den alten Volksreligionen treu. In den formal christianisierten Ländern hielt sich noch bis weit in die Neuzeit bei weiten Teilen der jeweiligen Bevölkerung nichtchristliches Denken mit entsprechenden Konsequenzen für Glauben, Alltag und Festkultur. Und bereits seit dem Mittelalter begann sich unter den Gebildeten Widerstand gegen die Doktrinen der Kirche zu regen. Die Suche nach einer neuen, freien Religiosität begann. Über Europa hatte sich zwar nach und nach eine Schicht christlichen Denkens gelegt, doch unter der Oberfläche und vor allem in seinem Kern war dieser Kontinent stets anderen Traditionen verpflichtet. Das „christliche Abendland“ erweist sich somit als Legende, die zeitweilig für Propagandazwecke taugte, dabei nicht die wirkliche Geistigkeit der europäischen Völker beschreiben kann.
Abschliessend stellt sich die Frage nach dem Heute und nach den Aufgaben, die Freireligiöse, Freigläubige, Unitarier und verwandte Gruppen haben. Die Macht der Kirchen ist heute in Deutschland nicht mehr die, die noch vor nicht ganz 100 Jahren bestand, sie ist sogar weit geringer, als das noch vor 20 Jahren der Fall war. Insbesondere seit 1967/68 hat ein tiefgreifender Verhaltenswandel in der Bundesrepublik eingesetzt, zu dem eine starke Abwendung weiter Teile der Bevölkerung vom Christentum gehörte. Die statistisch anhand von Massenaustritten aus den Kirchen feststellbare Abwendung wird dabei noch übertroffen durch die innere Abwendung vom Christentum auch bei denjenigen, die aus Bequemlichkeit oder aus familiären bzw. beruflichen Rücksichten noch in den Kirchen verbleiben. Zustände wie noch vor wenigen Jahrzehnten, als die Bevölkerung vieler Dörfer und Städte noch zu fast 100 Prozent der gleichen Konfession angehörte und die Macht der Kirchengemeinde in der politischen Gemeinde entsprechend gross war, finden sich heute nur noch vereinzelt. Konfessionelle Durchmischung und Kirchenaustritte haben die Dominanz einer jeweils einzelnen Kirche fast überall gebrochen.
Hinzu kommt, dass die Kirchen, dabei insbesondere die evangelische, sich mehr und mehr säkularisieren und weltlichen Fragen, vor allem auf politischem und sozialem Gebiet, zuwenden. Dies geht mit einem rapiden Verfall der inneren, geistigen Substanz einher. Angesichts dieser Tendenzen könnte man bereits von einer „Entchristlichung“ der westdeutschen Gesellschaft sprechen, so dass das Christentum im Nachhinein als Episode in der Geschichte der Deutschen erscheint. Eine solche Betrachtung wäre jedoch zu optimistisch und zu voreilig. Mittlerweile nämlich ist das Christentum, ist christliches Denken, in der Form säkularer Heilsideologien wieder in die Köpfe zurückgekehrt. Beispiele dafür gibt es vor allem im politischen Leben genug. Der Wahn absoluter Wehrlosigkeit in weiten Teilen der Friedensbewegung, die heute überall anzutreffende Gleichheits- und Gleichmacherei- Ideologie, die moralisierende statt realistische Betrachtung zahlreicher politischen Fragen, die von überzogener Bussfertigkeit geprägte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, eine universalistische Weltsicht, die die Unterschiede der Völker und Kulturen leugnet – all dies sind Haltungen, die im Kern auf die Buss-, Demuts-, Schuld- und Erlösungsideologie des Christentums zurückgehen und von ihr weiterhin inspiriert werden. So sehr auch die formale Macht der Kirchen schwindet, so sehr ist ein Denken aus christlichen Ursprüngen – und damit letztlich ein natur- und realitätsfernes Denken – in weiten Kreisen von Politik und Gesellschaft verbreitet. Genau hier hat meines Erachtens eine zeitgemässe Arbeit freier Glaubensgemeinschaften anzusetzen. Die Zielvorgaben von einst, wie der Kampf um Geistesfreiheit gegen klerikale Bevormundung, die Freiheit der religiösen Sitten, Bräuche und Handlungen, der Kampf um freien Religionsunterricht, um das Recht auf Feuerbestattung – all dies tritt heute in seiner Bedeutung zurück, da es in mehr als hundertjährigem Ringen bereits weitgehend erreicht werden konnte.
Die neue Aufgabe, die sich allen freien Glaubensgemeinschaften stellt, ist die inhaltliche Gestaltung der erkämpften Freiräume und die Sinngebung für all diejenigen, die zwar die Kirchen verlassen, aber ihr religiöses Bedürfnis deshalb nicht verloren haben. Diese Aufgabe lässt sich nur in der Auseinandersetzung mit den christlichen Inhalten, dem christlichen Denken, bewältigen, ganz gleich, ob es in seiner traditionellen oder in seiner neuen, säkularisierten Form einherkommt. Nicht mehr die äussere, kirchliche Form des Christentums hat also im Vordergrund unserer Kritik zu stehen, sondern das, was an christlichem Denken auch die Köpfe zahlreicher Menschen beherrscht, die sich subjektiv durchaus als Nichtchristen verstehen. Voraussetzung hierzu aber ist, dass wir uns selbst über unser Welt- und Menschenbild und über unser Religionsverständnis klar werden und Suchenden klare Antworten auf brennende Fragen geben können. Das Bild der freien Religion muss wieder schärfer konturiert und für Aussenstehende eindeutiger fassbar werden. Es darf sich nicht in der Unverbindlichkeit eines verschwommenen Allerwelthumanismus verlieren. Schaffen die freien Glaubensgemeinschaften diese Umorientierung und neue Aufgabenbestimmung nicht, dann werden sie bald schon ihre Existenzberechtigung verloren haben. Dem gilt es entgegenzuwirken.
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