- Die Zahl der Vorwürfe ist rasant gestiegen – zuletzt vor allem durch Enthüllungen in Südamerika.
- Die zuständige Stelle der katholischen Kirche kommt bei der Aufarbeitung kaum hinterher.
- Und in einigen Ländern werden weitere Skandale um sexuelle Übergriffe vermutet.
„Im Moment stehen wir vor einem regelrechten Tsunami von Fällen, vor allem aus Ländern, aus denen wir bisher nie etwas gehört hatten“, sagt John Kennedy, Leiter der Disziplinar-Abteilung der Kongregation für die Glaubenslehre.
Viele der Verbrechen liegen schon Jahre oder gar Jahrzehnte zurück. Zum Teil wurden sie aber erst vor kurzem öffentlich bekannt. Im Fokus standen zuletzt Argentinien, Mexiko und Chile sowie Polen und Italien. Auch aus den USA gingen immer wieder neue Vorwürfe ein.
2019 viermal so viele Fälle wie vor zehn Jahren
Insgesamt waren es 2019 etwa viermal so viele Fälle wie noch vor zehn Jahren. Entsprechend würden eigentlich auch deutlich mehr interne Ermittler gebraucht.

Papst Franziskus persönlich verkündete diese Woche seine Entscheidung, das „päpstliche Geheimnis“ bei Missbrauchsfällen abzuschaffen. Der Vatikan erklärte, dass dies eine bessere Kooperation mit weltlichen Gerichten ermöglichen solle.
Die Begründung war bemerkenswert. Denn indirekt wurde damit eingeräumt, dass Bischöfe das „päpstliche Geheimnis“ in der Vergangenheit genutzt haben, um eine solche Zusammenarbeit zu verweigern.
Die Probleme der Glaubenskongregation sind damit nicht aus der Welt – und sie stehen beispielhaft für die Dysfunktion der internen Justiz der Kirche. Die basiert nämlich weitgehend auf Bischöfen und anderen religiösen Amtsträgern, die oft über keinerlei rechtliche Erfahrung verfügen und auch keine qualifizierten Juristen unter ihren Mitarbeitern haben. Die Kritik an der Art der Aufarbeitung von sexuellen Übergriffen durch Priester lässt daher nicht nach.
Erste Skandale wurden in den 1990er Jahren bekannt
Die ersten Skandale erschütterten die katholische Kirche in den 90er Jahren in Irland und Australien. In den USA folgten im Jahr 2002 umfassende Enthüllungen. Ab 2010 wurden weitere Fälle in anderen Ländern Europas bekannt. Im vergangenen Jahr schließlich brachen auch in Südamerika etliche Missbrauchsopfer ihr Schweigen.
Die Glaubenskongregation ist die zentrale Stelle zur Prüfung der Vorwürfe – und zugleich eine Art Berufungsgericht für beschuldigte Priester.
In früheren Zeiten, als sie noch als Heiliges Offizium oder Kongregation der römischen und allgemeinen Inquisition bekannt war, führten dessen Urteile unter anderem zur Verbrennung von „Ketzern“ auf dem Scheiterhaufen oder zur Verbreitung von Listen mit „verbotenen“ Büchern. Heute geht es eher darum, überführten Priestern Buße oder Gebete abzuverlangen oder ihnen das Halten von öffentlichen Messen zu verbieten.

Schwerste Strafe ist Entlassung aus dem Dienst
Erst im Jahr 2001 wurde die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen unter dem Dach der Glaubenskongregation zentralisiert. Zuvor hatten Bischöfe meist davon abgesehen, Priester bei Bekanntwerden von Übergriffen zu bestrafen. Stattdessen wurden diese von einer Gemeinde zur nächsten versetzt – wo sie sich nicht selten dann erneut an Kindern vergingen.
Seit der Reform von 2001 sind Bischöfe und andere Amtsträger aufgefordert, bei entsprechenden Vorwürfen eine vorläufige Untersuchung einzuleiten. Sollte diese ergeben, dass an den Vorwürfen etwas dran ist, erfolgt eine Dokumentation der Erkenntnisse an die Glaubenskongregation, die dann über das weitere Vorgehen entscheidet. Am Ende fällt der Bischof ein Urteil.
Die „Höchststrafe“ ist dabei die Exkommunikation. Akzeptiert der Priester seine Strafe, ist der Fall damit abgeschlossen. Tut er es nicht, landet der Fall erneut im Vatikan.

Papst kann Verhandlung auf Video sehen
Verhandelt wird dort in einem prunkvollen Saal im Palazzo del Sant’Ufficio. Besonders auffällig sind in dem Raum, neben einem riesigen Kreuz aus Holz, eine Reihe von Kameras. Alle Sitzungen des Gremiums werden gefilmt. Die Aufzeichnungen landen in einem Archiv. Sollte der Papst einen konkreten Fall überprüfen wollen, kann er sich die Verhandlungen dort nachträglich ansehen.
Seit 2001 hat die Glaubenskongregation schon 6000 Fälle bearbeitet. Trotzdem gibt es einen erheblichen Rückstau – 2000 Vorwürfe konnten bisher nicht überprüft werden. Mit nur 17 festen Mitarbeitern ist die Behörde schlicht überlastet.
Und Kennedy geht davon aus, dass die Arbeit nicht so schnell weniger werden wird – zumal der Prozess der Aufarbeitung in vielen Teilen der Welt gerade erst begonnen habe. Dass aus einigen Ländern gar nichts bekannt sei, lasse darauf schließen, dass „sie entweder alle Heilige sind oder wir noch nicht von ihnen wissen“, sagt er.
ergänzend
Katholische Kirche in Pennsylvania Mehr als 300 Priester missbrauchten mindestens 1000 Kinder
In der katholischen Kirche in Pennsylvania war Kindesmissbrauch weit verbreitet. Zu diesem Ergebnis kommt ein Abschlussbericht eines Geschworenengremiums in den USA.
Im US-Bundesstaat Pennsylvania haben einer umfassenden Untersuchung zufolge mehr als 300 katholische Priester sexuelle Übergriffe auf Minderjährige begangen. Mindestens tausend Kinder seien missbraucht worden, heißt es in dem am Dienstag veröffentlichten Abschlussbericht eines Geschworenengremiums (Grand Jury) des Bundesstaates. Die Dunkelziffer könnte jedoch deutlich höher liegen, da Berichte von vielen Kindern verloren gegangen seien oder die Betroffenen aus Angst geschwiegen hätten.
Der Untersuchungsbericht stützt sich auf dutzende Zeugenaussagen und eine halbe Million Seiten kircheninterner Dokumente. Fast alle der aufgezählten Fälle seien mittlerweile verjährt, heißt es in dem Bericht. Zwei Priester hätten jedoch innerhalb der vergangenen zehn Jahre Kinder missbraucht.
Die Kinder seien begrapscht oder vergewaltigt worden
Die meisten Opfer waren der Untersuchung zufolge Jungen, viele von ihnen hatten noch nicht das Alter der Pubertät erreicht. Die Täter hätten Alkohol und Pornografie eingesetzt. Kinder seien begrapscht oder vergewaltigt worden. Die Kirche in Pennsylvania habe die Täter meist jahrelang gedeckt, heißt es in dem Bericht. Auch deshalb könnten viele Vergehen nun nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden. (AFP)